Die Siedlung by Michal Zamir

Die Siedlung by Michal Zamir

Autor:Michal Zamir
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-02-09T23:00:00+00:00


23

Um zehn nach zehn betrat sie das Café. Sie sah viel besser aus, als er gedacht hatte: in einem kurzen Wollmantel, der beim Ablegen ein olivgrünes Wollkleid zum Vorschein brachte, und hochhackigen schwarzen Stiefeln. Er blickte in ihre blitzenden braunen Augen und meinte, Funken darin sprühen zu sehen. Er senkte den Blick. Konzentrierte sich auf ihre Hand, die faszinierend schön aus dem Ärmel ragte, eine Geschichte erzählte mit ihren langen Fingern, die in abgerundeten Nägeln endeten, am kleinen Finger steckte ein schmaler Ring. Eine Hand, die zupackt, streichelt, mit leichtem Finger über erschauernde Haut flattert. Aber diese Hand war nicht mehr die Hand jenes jungen Mädchens. Die leichte Enttäuschung, die sie sofort registrierte – nein, dumm war sie nicht –, versetzte sie in die Wirklichkeit mit ihren Mängeln und Fehlern zurück. Und einen Moment, nur einen kurzen Augenblick, hätte sie alles gegeben, um wieder dreizehn zu sein, in weißem Trägerhemd und superknappen Jeansshorts, nur um noch einmal zu spüren, was damals zerrissen war, einen Schritt zurückzutun zu dem Augenblick vorher.

Ihr Blick sackte ebenfalls auf ihre Hand, die sich sofort zur Faust ballte, und ihre gesenkten Augen, die langen Wimpern rührten ihn ans Herz. Eine Frau von dreiundvierzig Jahren, die sich schämt. Genau das veranlasste ihn, seine Hand um ihre zu schließen, ihr Wärme zu spenden, sie zu beruhigen. Der Wille brauchte nicht lange, um Fleisch zu werden.

Er betrat die Empfangshalle, regelte das Finanzielle und bestellte in spendabler Laune auch Sekt und Obst aufs Zimmer. Sie wartete im Wagen, in ihrem klapprigen Golf mit der defekten Heizung. Nadavi würde um Viertel nach zwei aus der Schule kommen und hatte einen Schlüssel, überlegte sie. Notfalls müsste er eine Viertelstunde auf sie warten, vielleicht schaffte sie es sogar noch vor ihm. Sie sah auf ihre Uhr. Es war elf. Er kam auf sie zu. Sie stieg aus. Das Knirschen ihrer Absätze auf dem feuchten Kies, ihre Schönheit, der Mantel, die schmale Taille, der Po – all das zog ihn zart in eine ferne Fantasie, abgeschüttet vom Straßengewimmel, vom Lärm der Welt.

Sie rechnete: Wenn es jetzt elf Uhr war, wäre sie spätestens um Viertel nach eins im Haus, hätte dann vielleicht noch Zeit, um einzukaufen, Schnitzel fürs Mittagessen zu braten.

Vor ihnen stand ein Caravan, der aussah, als sei er eben erst aus einer Siedlung in den Gebieten abgezogen worden. Verträumt steckte er den Kartenschlüssel ein. Die Tür öffnete sich, offenbarte das Interieur eines Zimmers im Caravan: Resopal, Linoleum, ein luxuriöses, bezogenes Doppelbett. Sekunden später hörte man zögerndes Klopfen, und ein eleganter Edelstahlteewagen rollte herein, brachte eine überquellende Obstschale mit Trauben, Birnen, Litschi, Ananas, eine kalte Flasche Sekt im Silberkühler, zwei Kristallgläser, eine weiße Stoffserviette. Hilali blickte ein letztes Mal verstohlen auf die Uhr. Neun Minuten nach elf.

Ihre Lippen, mit dem gleichen braunen Lippenstift geschminkt, umschlossen den hauchdünnen Rand des Glases. Der kühle Sekt erreichte langsam ihre Zunge. Sie setzte sich aufs Bett, mochte nicht noch einmal auf die Uhr sehen, aber nach ihrer Schätzung war es schon zwanzig nach elf. Ihr blieben ungefähr zwei Stunden.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.